Eigenschaften,
die keine sind ausgesucht von Empedokles.
Musils bekannter Roman
(den kaum einer jemals durchgelesen hat)
handelt von ja von wem eigentlich?
Nietzsches Übermensch?
Ulrich? Karl Schulz?
Hier die Textstelle, in der der Jugendfreund des Mannes ohne Eigenschaften
es verrät:
Der
Mann ohne Eigenschaften

"Willst
du Bier?"
"Ja? Warum nicht? Ich trinke doch immer eins."
"Aber ich habe keines im Haus!"
"Schade, daß du mich gefragt hast", seufzte Walter. "Ich
hätte vielleicht gar nicht daran gedacht."
Damit war die Frage für Clarisse erledigt. Aber Walter war nun aus
dem Gleichgewicht geraten, er fand nicht mehr die rechte Fortsetzung.
" Erinnerst du dich noch an unser Gespräch vom Künstler?"
fragte er unsicher.
"Welches?"
"Das vor ein paar Tagen. Ich habe dir erklärt, was ein lebendiges
Formprinzip in einem Menschen bedeutet. Erinnerst du dich nicht, wie ich
zu dem Schluß gekommen bin, daß früher statt Tod und
logischer Mechanisierung Blut und Weisheit geherrscht haben?"
"Nein."
Walter war gehemmt, suchte, schwankte. Auf einmal platzte er los: Er
ist ein Mann ohne Eigenschaften."
"Was ist das?", fragte Clarisse kichernd.
"Nichts. Eben nichts ist das!"
Aber Clarisse war durch das Wort neugierig geworden.
"Das gibt es heute in Millionen" behauptete Walter. "Das
ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat!"
Das unversehens gekommene Wort hatte ihm selbst gefallen; als begänne
er ein Gedicht, trieb ihn das Wort vorwärts, ehe er den Sinn hatte.
"Sieh ihn dir an! Wofür würdest du ihn halten? Sieht er
aus wie ein Arzt, wie ein Kaufmann, ein Maler oder ein Diplomat?"
"Das ist er doch auch nicht" meinte Clarisse nüchtern.
"Nun, sieht er vielleicht wie ein Mathematiker aus!?"
"Das weiß ich nicht; ich weiß doch nicht, wie ein Mathematiker
aussehen soll!"
"Da sagst du etwas, das sehr richtig ist! Ein Mathematiker sieht
nach gar nichts aus; das heißt, er wird so allgemein intelligent
aussehen, daß es keinen einzigen bestimmten Inhalt hat! Mit Ausnahme
der römisch-katholischen Geistlichen sieht heute überhaupt niemand
mehr so aus, wie er sollte, weil wir unseren Kopf noch unpersönlicher
gebrauchen als unsere Hände; aber Mathematik, das ist der Gipfel,
das weiß bereits so wenig von sich selbst, wie die Menschen, wenn
sie sich dereinst statt von Fleisch und Brot von Kraftpillen nähren
werden, noch von Wiesen und jungen Kälbern und Hühnern wissen
dürften!"
Clarisse hatte inzwischen das einfache Abendbrot auf den Tisch gestellt,
und Walter hatte sich schon tüchtig damit beschäftigt; vielleicht
hatte ihm das diesen Vergleich eingegeben. Clarisse sah seinen Lippen
zu. Sie erinnerten sie an seine verstorbene Mutter, es waren kräftig
weibliche Lippen, die das Essen wie eine Hausarbeit betrieben und ein
kleines geschnittenes Bärtchen obenauf trugen. Seine Augen glänzten
wie frisch ausgeschälte Kastanien, auch wenn er nur ein Stück
Käse in der Schüssel suchte. Obgleich er klein und eher weichlich
als zart gebaut war, machte er Eindruck und gehörte zu den Menschen,
die immer gut beleuchtet erscheinen. Er fuhr nun in seinem Gespräch
weiter fort. "Du kannst keinen Beruf aus seiner Erscheinung erraten,
und doch sieht er auch nicht wie ein Mann aus, der keinen Beruf hat. Und
nun überleg dir einmal, wie er ist: Er weiß immer, was er zu
tun hat; er kann einer Frau in die Augen schaun; er kann in jedem Augenblick
tüchtig über alles nachdenken; er kann boxen. Er ist begabt,
willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, draufgängerisch,
besonnen ich will das gar nicht im einzelnen prüfen, er mag
alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht! Sie haben
das aus ihm gemacht, was er ist, und seinen Weg bestimmt, und sie gehören
doch nicht zu ihm. Wenn er zornig ist, lacht etwas in ihm. Wenn er traurig
ist, bereitet er etwas vor. Wenn er von etwas gerührt wird, lehnt
er es ab. Jede schlechte Handlung wird ihm in irgendeiner Beziehung gut
erscheinen. Immer wird für ihn erst ein möglicher Zusammenhang
entscheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn
fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen
Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber
nicht im geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort,
jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts
darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes »wie
es ist«, irgendeine Zutat, kommt es ihm immer an. Ich weiß
nicht, ob ich mich dir verständlich machen kann?"
"Doch", sagte Clarisse. Aber ich finde das sehr nett von
ihm."
Walter hatte unwillkürlich mit Zeichen wachsender Abneigung gesprochen;
das alte Knabengefühl des schwächeren Freunds vergrößerte
seine Eifersucht. Denn obwohl er überzeuge war, daß Ulrich
außer ein paar nackten Verstandesproben nie etwas geleistet habe,
wurde er heimlich den Eindruck nicht los, ihm immer körperlich unterlegen
gewesen zu sein. Das Bild, das er entwarf, befreite ihn wie das Gelingen
eines Kunstwerks; nicht er stellte es aus sich hinaus, sondern an das
geheimnisvolle Gelingen eines Anfangs geknüpft, hatte sich außen
Wort an Wort gesetzt, und in seinem Inneren löste sich dabei etwas
auf, das ihm nicht bewußt wurde. Als er fertig war, hatte er erkannt,
daß Ulrich nichts ausdrücke als dieses aufgelöste Wesen,
das alle Erscheinungen heute haben.
"Dir gefällt das?" fragte er nun, schmerzlich überrascht.
"Das darfst du nicht im Ernst sagen!"
Clarisse kaute Brot mit weichem Käse; sie konnte nur mit den Augen
lächeln.
"Ach," sagte Walter "so ähnlich haben wir vielleicht
früher auch gedacht. Aber man darf darin doch nicht mehr als eine
Vorstufe sehen! So ein Mensch ist doch kein Mensch!"
Nun war Clarisse fertig. "Das sagt er doch selbst!" behauptete
sie.
"Was sagt er selbst?!"
"Ach, weiß ich's!? Daß heute alles aufgelöst ist.
Er sagt, alles ist jetzt steckengeblieben, nicht nur er. Aber er nimmt
es nicht so übel wie du. Er hat mir einmal eine lange Geschichte
erzählt: Wenn man das Wesen von tausend Menschen zerlegt, so stößt
man auf zwei Dutzend Eigenschaften, Empfindungen, Ablaufarten, Aufbauformen
und so weiter, aus denen sie alle bestehn. Und wenn man unseren Leib zerlegt,
so findet man nur Wasser und einige Dutzend Stoffhäufchen, die darauf
herumschwimmen. Das Wasser steigt in uns genau so wie in die Bäume,
und es bildet die Tierleiber, wie es die Wolken bildet. Ich finde das
hübsch. Man weiß dann bloß nicht recht, was man zu sich
sagen soll. Und was man tun soll." Clarisse kicherte. "Ich habe
ihm darauf erzählt, daß du tagelang fischen gehst, wenn du
frei hast, und am Wasser liegst."
"Nun, und? Ich möchte wissen, ob er das auch nur zehn Minuten
aushielte?! Aber Menschen" sagte Walter fest "tun das seit zehntausend
Jahren, starren den Himmel an, spüren die .Erdwärme und zerlegen
das so wenig wie man seine Mutter zerlegt!"
Clarisse mußte wieder kichern. "Er sagt, das hat sich seither
sehr verwickelt. So wie wir auf dem Wasser schwimmen, schwimmen wir auch
in einem Meer von Feuer, einem Sturm von Elektrizität, einem Himmel
von Magnetismus, einem Sumpf von Wärme und so weiter. Alles aber
unfühlbar. Zum Schluß bleiben überhaupt nur Formeln übrig.
Und was die menschlich bedeuten, kann man nicht recht ausdrücken;
das ist das Ganze. Ich habe schon vergessen, was ich im Lyzeum gelernt
habe, aber irgendwie stimmt es wohl. Und wenn einer heute, sagt er, so
wie der heilige Franziskus oder du zu den Vögeln Bruder sagen wolle,
dann dürfe er sich's nicht bloß so angenehm machen, sondern
müsse sich auch entschließen können, in den Ofen zu fahren,
durch die Leitungsstange einer Elektrischen in die Erde zu springen oder
durch eine Abwaschvorrichtung in den Kanal zu pritscheln."
"Ja, ja!" unterbrach Walter diesen Bericht. "Erst werden
aus den vier Elementen einige Dutzend, und zum Schluß schwimmen
wir bloß noch auf Beziehungen, auf Vorgängen, auf einem Spülicht
von Vorgängen und Formeln, auf irgendetwas, wovon man weder weiß,
ob es ein Ding, ein Vorgang, ein Gedankengespenst oder ein Ebengottweißwas
ist! Dann besteht zwischen einer Sonne und einem Zündholz kein Unterschied
mehr, und zwischen dem Mund als dem einen Ende des Verdauungskanals und
seinem anderen Ende auch keiner! Die gleiche Sache hat hundert Seiten,
die Seite hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle.
Das Menschenhirn hat dann glücklich die Dinge geteilt; aber die Dinge
haben das Menschenherz geteilt!" Er war aufgesprungen, aber er blieb
hinter dem Tisch stehen. "Clarisse!" sagte er. "Er ist
eine Gefahr für dich! Schau, Clarisse, jeder Mensch braucht heute
nichts so nötig wie Einfachheit, Erdnähe, Gesundheit
und ja, ganz gewiß, da kannst du sagen, was du willst auch
ein Kind, weil ein Kind es ist, was einen fest an den Boden bindet. Was
dir Ulo erzählt, ist alles unmenschlich. Ich versichere dir, ich
habe den Mut, wenn ich nach Hause komme, einfach mit dir Kaffee zu trinken,
den Vögeln zuzuhören, ein bißchen spazierenzugehn, mit
den Nachbarn ein paar Worte zu wechseln und den Tag ruhig ausklingen zu
lassen: Das ist Menschenleben!"
Die Zärtlichkeit dieser Vorstellungen hatte ihn langsam ihr näher
geführt; aber sowie Vatergefühle von fern ihre sanfte Baßstimme
erhoben, wurde Clarisse störrisch. Ihr Gesicht verstummte, während
er sich ihr näherte, und nahm eine Verteidigungsstellung an.
Als er bei ihr angelangt war, strömte er eine warme Sanftheit aus
wie ein guter Bauernofen. Clarisse schwankte einen Augenblick in ihren
Strömen. Dann sagte sie: "Nix, mein Lieber!" Sie raffte
ein Stück Käse und Brot vom Tisch und küßte ihn rasch
auf die Stirn.
"Ich geh nachschaun, ob keine Nachtfalter da sind."
"Aber Clarisse," bat Walter in dieser Jahreszeit gibt
es doch doch keine Schmetterlinge mehr."
"Ach, das kann man nicht wissen!"
Es blieb von ihr nur das Lachen im Zimmer zurück. Mit ihrem Stück
Brot und Käse streifte sie über die Wiesen; die Gegend war sicher,
und sie brauchte keine Begleitung. Walters Zärtlichkeit sank zusammen
wie ein vom Feuer zur Unzeit weggerissener Auflauf. Er seufzte tief auf.
Dann setzte er sich zögernd wieder ans Klavier und schlug einige
Tasten an. Ob er es wollte oder nicht, es wurden Phantasien über
Motive aus Wagneropern daraus, und in dem Geplätscher dieser zuchtlos
quellenden Substanz, die er sich einst in den Zeiten des Hochmuts versagt
hatte, schilften und gurgelten seine Finger durch die Tonflut. Mochte
man es weithin hören! Sein Rückenmark wurde von der Narkose
dieser Musik gelähmt und sein Schicksal erleichtert.
Robert
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1,
Berlin: Volk und Welt, 1980, S. 80 85
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