TempelAusgabe 1
13. April 2000
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Eigenschaften, die keine sind – ausgesucht von Empedokles.
Musils bekannter Roman
(den kaum einer jemals durchgelesen hat)
handelt von – ja von wem eigentlich?
Nietzsches Übermensch?
Ulrich? Karl Schulz?
Hier die Textstelle, in der der Jugendfreund des Mannes ohne Eigenschaften es verrät:

Der Mann ohne Eigenschaften

"Willst du Bier?"
– "Ja? Warum nicht? Ich trinke doch immer eins."
"Aber ich habe keines im Haus!"
"Schade, daß du mich gefragt hast", seufzte Walter. "Ich hätte vielleicht gar nicht daran gedacht."
Damit war die Frage für Clarisse erledigt. Aber Walter war nun aus dem Gleichgewicht geraten, er fand nicht mehr die rechte Fortsetzung.
" Erinnerst du dich noch an unser Gespräch vom Künstler?" fragte er unsicher.
"Welches?"
"Das vor ein paar Tagen. Ich habe dir erklärt, was ein lebendiges Formprinzip in einem Menschen bedeutet. Erinnerst du dich nicht, wie ich zu dem Schluß gekommen bin, daß früher statt Tod und logischer Mechanisierung Blut und Weisheit geherrscht haben?"
"Nein."
Walter war gehemmt, suchte, schwankte. Auf einmal platzte er los: „Er ist ein Mann ohne Eigenschaften."
"Was ist das?", fragte Clarisse kichernd.
"Nichts. Eben nichts ist das!"
Aber Clarisse war durch das Wort neugierig geworden.
"Das gibt es heute in Millionen" behauptete Walter. "Das ist der Menschenschlag, den die Gegenwart hervorgebracht hat!"
Das unversehens gekommene Wort hatte ihm selbst gefallen; als begänne er ein Gedicht, trieb ihn das Wort vorwärts, ehe er den Sinn hatte.
"Sieh ihn dir an! Wofür würdest du ihn halten? Sieht er aus wie ein Arzt, wie ein Kaufmann, ein Maler oder ein Diplomat?"
"Das ist er doch auch nicht" meinte Clarisse nüchtern.
"Nun, sieht er vielleicht wie ein Mathematiker aus!?"
"Das weiß ich nicht; ich weiß doch nicht, wie ein Mathematiker aussehen soll!"
"Da sagst du etwas, das sehr richtig ist! Ein Mathematiker sieht nach gar nichts aus; das heißt, er wird so allgemein intelligent aussehen, daß es keinen einzigen bestimmten Inhalt hat! Mit Ausnahme der römisch-katholischen Geistlichen sieht heute überhaupt niemand mehr so aus, wie er sollte, weil wir unseren Kopf noch unpersönlicher gebrauchen als unsere Hände; aber Mathematik, das ist der Gipfel, das weiß bereits so wenig von sich selbst, wie die Menschen, wenn sie sich dereinst statt von Fleisch und Brot von Kraftpillen nähren werden, noch von Wiesen und jungen Kälbern und Hühnern wissen dürften!" –
Clarisse hatte inzwischen das einfache Abendbrot auf den Tisch gestellt, und Walter hatte sich schon tüchtig damit beschäftigt; vielleicht hatte ihm das diesen Vergleich eingegeben. Clarisse sah seinen Lippen zu. Sie erinnerten sie an seine verstorbene Mutter, es waren kräftig weibliche Lippen, die das Essen wie eine Hausarbeit betrieben und ein kleines geschnittenes Bärtchen obenauf trugen. Seine Augen glänzten wie frisch ausgeschälte Kastanien, auch wenn er nur ein Stück Käse in der Schüssel suchte. Obgleich er klein und eher weichlich als zart gebaut war, machte er Eindruck und gehörte zu den Menschen, die immer gut beleuchtet erscheinen. Er fuhr nun in seinem Gespräch weiter fort. "Du kannst keinen Beruf aus seiner Erscheinung erraten, und doch sieht er auch nicht wie ein Mann aus, der keinen Beruf hat. Und nun überleg dir einmal, wie er ist: Er weiß immer, was er zu tun hat; er kann einer Frau in die Augen schaun; er kann in jedem Augenblick tüchtig über alles nachdenken; er kann boxen. Er ist begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, draufgängerisch, besonnen – ich will das gar nicht im einzelnen prüfen, er mag alle diese Eigenschaften haben. Denn er hat sie doch nicht! Sie haben das aus ihm gemacht, was er ist, und seinen Weg bestimmt, und sie gehören doch nicht zu ihm. Wenn er zornig ist, lacht etwas in ihm. Wenn er traurig ist, bereitet er etwas vor. Wenn er von etwas gerührt wird, lehnt er es ab. Jede schlechte Handlung wird ihm in irgendeiner Beziehung gut erscheinen. Immer wird für ihn erst ein möglicher Zusammenhang entscheiden, wofür er eine Sache hält. Nichts ist für ihn fest. Alles ist verwandlungsfähig, Teil in einem Ganzen, in unzähligen Ganzen, die vermutlich zu einem Überganzen gehören, das er aber nicht im geringsten kennt. So ist jede seiner Antworten eine Teilantwort, jedes seiner Gefühle nur eine Ansicht, und es kommt ihm bei nichts darauf an, was es ist, sondern nur auf irgendein danebenlaufendes »wie es ist«, irgendeine Zutat, kommt es ihm immer an. Ich weiß nicht, ob ich mich dir verständlich machen kann?"
"Doch", sagte Clarisse. „Aber ich finde das sehr nett von ihm."
Walter hatte unwillkürlich mit Zeichen wachsender Abneigung gesprochen; das alte Knabengefühl des schwächeren Freunds vergrößerte seine Eifersucht. Denn obwohl er überzeuge war, daß Ulrich außer ein paar nackten Verstandesproben nie etwas geleistet habe, wurde er heimlich den Eindruck nicht los, ihm immer körperlich unterlegen gewesen zu sein. Das Bild, das er entwarf, befreite ihn wie das Gelingen eines Kunstwerks; nicht er stellte es aus sich hinaus, sondern an das geheimnisvolle Gelingen eines Anfangs geknüpft, hatte sich außen Wort an Wort gesetzt, und in seinem Inneren löste sich dabei etwas auf, das ihm nicht bewußt wurde. Als er fertig war, hatte er erkannt, daß Ulrich nichts ausdrücke als dieses aufgelöste Wesen, das alle Erscheinungen heute haben.
"Dir gefällt das?" fragte er nun, schmerzlich überrascht. "Das darfst du nicht im Ernst sagen!"
Clarisse kaute Brot mit weichem Käse; sie konnte nur mit den Augen lächeln.
"Ach," sagte Walter "so ähnlich haben wir vielleicht früher auch gedacht. Aber man darf darin doch nicht mehr als eine Vorstufe sehen! So ein Mensch ist doch kein Mensch!"
Nun war Clarisse fertig. "Das sagt er doch selbst!" behauptete sie.
"Was sagt er selbst?!"
"Ach, weiß ich's!? Daß heute alles aufgelöst ist. Er sagt, alles ist jetzt steckengeblieben, nicht nur er. Aber er nimmt es nicht so übel wie du. Er hat mir einmal eine lange Geschichte erzählt: Wenn man das Wesen von tausend Menschen zerlegt, so stößt man auf zwei Dutzend Eigenschaften, Empfindungen, Ablaufarten, Aufbauformen und so weiter, aus denen sie alle bestehn. Und wenn man unseren Leib zerlegt, so findet man nur Wasser und einige Dutzend Stoffhäufchen, die darauf herumschwimmen. Das Wasser steigt in uns genau so wie in die Bäume, und es bildet die Tierleiber, wie es die Wolken bildet. Ich finde das hübsch. Man weiß dann bloß nicht recht, was man zu sich sagen soll. Und was man tun soll." Clarisse kicherte. "Ich habe ihm darauf erzählt, daß du tagelang fischen gehst, wenn du frei hast, und am Wasser liegst."
"Nun, und? Ich möchte wissen, ob er das auch nur zehn Minuten aushielte?! Aber Menschen" sagte Walter fest "tun das seit zehntausend Jahren, starren den Himmel an, spüren die .Erdwärme und zerlegen das so wenig wie man seine Mutter zerlegt!"
Clarisse mußte wieder kichern. "Er sagt, das hat sich seither sehr verwickelt. So wie wir auf dem Wasser schwimmen, schwimmen wir auch in einem Meer von Feuer, einem Sturm von Elektrizität, einem Himmel von Magnetismus, einem Sumpf von Wärme und so weiter. Alles aber unfühlbar. Zum Schluß bleiben überhaupt nur Formeln übrig. Und was die menschlich bedeuten, kann man nicht recht ausdrücken; das ist das Ganze. Ich habe schon vergessen, was ich im Lyzeum gelernt habe, aber irgendwie stimmt es wohl. Und wenn einer heute, sagt er, so wie der heilige Franziskus oder du zu den Vögeln Bruder sagen wolle, dann dürfe er sich's nicht bloß so angenehm machen, sondern müsse sich auch entschließen können, in den Ofen zu fahren, durch die Leitungsstange einer Elektrischen in die Erde zu springen oder durch eine Abwaschvorrichtung in den Kanal zu pritscheln."
"Ja, ja!" unterbrach Walter diesen Bericht. "Erst werden aus den vier Elementen einige Dutzend, und zum Schluß schwimmen wir bloß noch auf Beziehungen, auf Vorgängen, auf einem Spülicht von Vorgängen und Formeln, auf irgendetwas, wovon man weder weiß, ob es ein Ding, ein Vorgang, ein Gedankengespenst oder ein Ebengottweißwas ist! Dann besteht zwischen einer Sonne und einem Zündholz kein Unterschied mehr, und zwischen dem Mund als dem einen Ende des Verdauungskanals und seinem anderen Ende auch keiner! Die gleiche Sache hat hundert Seiten, die Seite hundert Beziehungen, und an jeder hängen andere Gefühle. Das Menschenhirn hat dann glücklich die Dinge geteilt; aber die Dinge haben das Menschenherz geteilt!" Er war aufgesprungen, aber er blieb hinter dem Tisch stehen. "Clarisse!" sagte er. "Er ist eine Gefahr für dich! Schau, Clarisse, jeder Mensch braucht heute nichts so nötig wie Einfachheit, Erdnähe, Gesundheit – und ja, ganz gewiß, da kannst du sagen, was du willst – auch ein Kind, weil ein Kind es ist, was einen fest an den Boden bindet. Was dir Ulo erzählt, ist alles unmenschlich. Ich versichere dir, ich habe den Mut, wenn ich nach Hause komme, einfach mit dir Kaffee zu trinken, den Vögeln zuzuhören, ein bißchen spazierenzugehn, mit den Nachbarn ein paar Worte zu wechseln und den Tag ruhig ausklingen zu lassen: Das ist Menschenleben!"
Die Zärtlichkeit dieser Vorstellungen hatte ihn langsam ihr näher geführt; aber sowie Vatergefühle von fern ihre sanfte Baßstimme erhoben, wurde Clarisse störrisch. Ihr Gesicht verstummte, während er sich ihr näherte, und nahm eine Verteidigungsstellung an.
Als er bei ihr angelangt war, strömte er eine warme Sanftheit aus wie ein guter Bauernofen. Clarisse schwankte einen Augenblick in ihren Strömen. Dann sagte sie: "Nix, mein Lieber!" Sie raffte ein Stück Käse und Brot vom Tisch und küßte ihn rasch auf die Stirn.
"Ich geh nachschaun, ob keine Nachtfalter da sind."
"Aber Clarisse," bat Walter „in dieser Jahreszeit gibt es doch doch keine Schmetterlinge mehr."
"Ach, das kann man nicht wissen!"
Es blieb von ihr nur das Lachen im Zimmer zurück. Mit ihrem Stück Brot und Käse streifte sie über die Wiesen; die Gegend war sicher, und sie brauchte keine Begleitung. Walters Zärtlichkeit sank zusammen wie ein vom Feuer zur Unzeit weggerissener Auflauf. Er seufzte tief auf. Dann setzte er sich zögernd wieder ans Klavier und schlug einige Tasten an. Ob er es wollte oder nicht, es wurden Phantasien über Motive aus Wagneropern daraus, und in dem Geplätscher dieser zuchtlos quellenden Substanz, die er sich einst in den Zeiten des Hochmuts versagt hatte, schilften und gurgelten seine Finger durch die Tonflut. Mochte man es weithin hören! Sein Rückenmark wurde von der Narkose dieser Musik gelähmt und sein Schicksal erleichtert.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Band 1,
Berlin: Volk und Welt, 1980, S. 80 – 85

 

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