TempelAusgabe 2
22. August 2000
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Wer ist Kassandra? Kassandra

Die Truhe

Ich bin hier gelandet nach einer Odyssee von Wohnung zu Wohnung, jedesmal ein wenig billiger und schäbiger. Und schäbiger als hier konnte es kaum sein. Bei meiner ersten Besichtigung der Räume erzählte mir der Hausverwalter, in denselben habe ein Verrückter gelebt. Meine Nachbarn, die damals noch meine zukünftigen waren, warnten mich vor dieser Wohnung und behaupteten, es spuke des Nächtens. Ich glaubte ihnen nicht. Heute weiß ich, wie gut sie es meinten, als sie mich fernhalten wollten.
Ich zog also ein mit meinen Büchern und meinem alten Stuhl. In einem der Zimmer stand eine Truhe, staubig und abgeschabt … bestens geeignet, meine Kleider aufzunehmen.
Gerade war ich im Begriff, den Deckel anzuheben, als eine Nachbarin hereinstürmte und mich von meinem Vorhaben abzuhalten suchte. Alles, was ich aus ihrem wilden Gestammel heraushören konnte, waren »Nein!« und »Gefährlich!«. Allerdings hat mich das noch nie abgehalten, was sich jedoch in diesem Fall als verhängnisvoll erweisen sollte.
Ich öffnete die Truhe…
Wie allen alten Möbel entströmte ihr ein muffiger Geruch. Und sie war auch nicht ganz leer, eben wie alle alten Möbel. Es lagen ein Notizbuch darin und ein kleiner Bilderrahmen; Jugendstil, glaube ich. Die Seiten des Büchleins waren angefüllt mit Zeilen in einer steilen Handschrift, der Bilderrahmen umspannte statt des Bildes einen schon etwas blinden Spiegel. Er paßte gut auf mein Wandbord. Das Buch legte ich zurück mit dem Entschluß, es bei Gelegenheit durchzusehen.
……
Ich muß immer wieder vor dem Spiegel stehenbleiben.
Das ist nicht mein Gesicht! …
Oder doch?
……
Ich weiß nicht, wen oder was ich sehe, aber es ist faszinierend…
……
Was willst du? – Wer bist du? – Aah! – Nein! – Geh weg! – Nein!
……
(Klirren von Glas)

Vorgestern fand man die Leiche einer jungen Frau am Boden eines Lichtschachtes im Treppenhaus eines Mietshauses. Auf dem Treppenabsatz der obersten Etage konnten die ermittelnden Beamten einen Notizblock sicherstellen. Nach eingehender Prüfung ist die Polizei zu dem Schluß gekommen, daß es sich um Selbstmord handelt. In dem erwähnten Notizbuch war ein längst vergessenes Verbrechen beschrieben, daß jedoch augenscheinlich nichts mit dem Freitod der Frau zu tun hat.

 

 

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