TempelAusgabe 1
13. April 2000
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Wer ist Empedokles? Empedokles

Der Fremde und das Dichten

Ein Beitrag zur Bereicherung unseres Geschichtsbildes,
bei gleichzeitiger Selbstbeweihräucherung der höchsten
und klügsten Köpfe, per Zufall entdeckt und der werten
Öffentlichkeit hiermit zugänglich gemacht

Vorrede

Der folgende Brief entstammt dem umfangreichen Nachlaß einer Familie aus Tübingen, den die Lorenberg-Stiftung vor kurzem erworben hat und mit dessen Auswertung sie mich betrauten.
Die genauen Umstände, wie dieses interessante Dokument aus einer Zeit, in der freundschaftliche Kontakte über weite Strecken einzig mit der Post gepflegt wurden, in den Besitz dieser Familie gelangte, sind noch nicht hinlänglich geklärt.
Dieses Zeitdokument erscheint mir wichtig genug für eine Veröffentlichung, weil es einen kleinen Einblick in die Gepflogenheiten bürgerlicher Korrespondenz um die Mitte des letzten Jahrhunderts ermöglicht.
Wer der Absender des Briefes genau ist, konnte trotz intensiver Recherchearbeit bis dato nicht ermittelt werden, genausowenig, wie die Identität des Empfängers. Einige Hinweise deuten darauf hin (vgl. die Anspielung im ersten Absatz des Dokumentes), daß es einen Zusammenhang mit einem anderen Briefwechsel gibt, für den bis jetzt jedoch ebenfalls keinerlei Beweise gefunden wurden.

Der Herausgeber

Lointaine an Bellarmin

De te fabula narratur!

Nachricht aus dunklen Landen zu hören, freut mich des abends im Scheine der auf getünchten Wänden schreibenden Lampe besonders. Die Schatten umspielen mich dann in meiner Höhle, das Pergament raschelt, der Docht knistert und stört mich nicht.
So spreche ich denn nun zu dir – wohl wissend, daß gerade dies dir gut tun wird, höre ich doch, daß die Korrespondenz mit H. dich nächtens quält, da er zwar spricht, doch nur mit sich (so fand er sich).

O Bellarmin, du hast so viele Fragen! Fragen, auf die ich höchst selten eine Antwort weiß; Fragen, die – meine Liebe zur Wahrheit zwingt mich, dies zuzugeben – zu manchen Zeiten meine Mundwinkel zucken machten und Fragen, über die nachzudenken ich bisher weder Muße noch Veranlagung hatte, die mich nie quälten und unter einem klaren Sternenhimmel verblassen bis zur Nichtigkeit.
Ich schicke es voraus: Raten kann ich dir nicht, doch hilft es dir vielleicht (so hoffe ich), wenn du den Gedanken eines dir Wohlgesonnenen lauschst, einem Freunde, der, läge es in seiner Macht, die Zeiten und die Umstände zum Wohle ändern würde.
Mit Freuden und Bewunderung vernahm ich, daß ein Drang in dir ist. Ein Drang, der, verstehe ich es recht, schon lange sucht, sich zu manifestieren. Zu dichten, zu schreiben, etwas zu sagen ist dein Ziel. Aber statt ins Feld zu ziehen, die Feder zu spitzen, dem Drange nachzugeben, quält dich, wie es für dich wohl richtig sei, Gedanken in vorzüglich ewige Formen zu pressen. Genus inritabile vatum: Du willst ein Dichter sein, von dem die Welt weiß, über den sie spricht und dessen Größe aus seinen Werken scheint. Doch tut sie das, frage ich dich; scheinst wirklich du – solltest du veröffentlicht sein – aus dem fertigen Werke?

Ich erinnere mich noch deines Briefes, als der Große, den du bewundertest, mit Inbrunst verehrtest, vor kurzem ging (dieses kann ich nicht teilen, las ich doch nie etwas von ihm, wenngleich ich dem Urteile so vieler traue). Das Verbeugen scheint wohl wahr, doch deucht mich, der Gegenstand der Liebe ist ein Bild – ein Bild gebaut aus vielen Büchern, rekonstruiert aus vielen Zeilen und gemalt mit Phantasie. Ich weiß nicht, ob du den geadelten Menschen hinter den Buchstaben persönlich kanntest, ob du je ein Wort zu ihm sprachst; du liebst den Dichter um seiner Poesie willen (und gäbe es sie nicht, liebtest du nicht; existierte nämlicher nicht). Was, wenn einstens Philologen und Historiker feststellten, daß er (der Große) mit Hinterlist und Argsinn unliebsame Buhler verdrängte, buckelte und kratze, um groß zu werden? Ich behaupte: Nichts ist dann. Denn was immerdar bleibt, ist das Werk, das Ewige, nur aus sich selbst existierende Kunstwerk.

Übers Dichten weiß ich nichts, über den Dichter nur aus seinem Werke. So maße ich mir nicht an, von einem Menschen, dessen Zeilen ich verschlungen, etwas zu sagen; nur über den göttlichen Dichter jener Erbaulichkeit könnte ich sprechen. – Denn beides ist nicht dasselbe (mich dünkt, es werden noch an die hundert Jahr ins Lande ziehen, bis an den Akademien dieses wird erkannt sein).
Aus deinen Fragen schließe ich, mein Bellarmin, du willst, du glaubst, du möchtest mit jeder Faser deines Wesens, daß jeder deine hohe Gesinnung, dein edles Gemüt und dein großes Herz aus jeder Zeile, jedem Wort, das du geschrieben, erkennen möge, auf daß die Welt, die Menschen (ja selbst Gott) besser werden. – Jedoch: Ich kenne die Menschen; dies wird nicht wohl möglich sein.

Ich glaube, das Buch ist eine bunte Wand; ein Mensch (mit Gefühlen – großen und nichtigen –, mit Liebe und auch Haß, mit Fehlern und Genius) sitzt am Tische und eine Lampe wirft Schatten an dieselbe. Was wir nur sehen, sind Geisterwesen: vom sich mühenden schreibenden Menschen (der Dichter) und den Produkten seines Kopfes (Figuren, Orte etc.).
Das ist es, oh mein Bellarmin: Aus deinem Werke scheinst nicht du, sondern der Dichter, den du zwischen den Zeilen versteckt hast! Und deshalb gehört die Poesie, die freilich in dir ist, nach der Geburt nicht mehr dir. Was Menschen allen Standes von dem Schöpfer deiner Zeilen halten mögen, das zu steuern liegt nicht in deiner Macht!
Und wisse: Das Schaffen ist ein wichtiger Teil, doch eben nicht das Einzige. Was anderes ist’s, wie der Mensch, der deine Zeilen genießt, sich just im Augenblicke fühlt, was er erlebt, erfahren, studiert, welch Standes er ist, welch Geschlechts und welcher Gesinnung. Wie willst du dieses beeinflussen?

Auch ist der Dichter nur ein Teil von dir und lebt in deinen Werken. Wie viele es auch sein mögen, er (der Dichter) wird immer nur ein Teil des Teiles von dir sein, nie etwas Ganzes. Es scheint arg voreilig, aus dem Bruchstück eines Teiles auf das Universum zu schließen (Zwar ist anderes nie möglich, doch ist ein solches Urteil stets nur wahrscheinlich, niemals wahr.).
Deshalb verstehe ich deine Qual so wenig: Wie du dich auch mühst, die Ziegel für das Haus zu fertigen, Richtfest feiern stets die anderen.

De hoc satis! – Habe Mut, mein teurer Freund, habe Mut und schere dich nicht. Nächstens mehr …

Dein L.

Nachrede

Wie in diesen Zeiten üblich, befanden sich am Rande des Briefes und auf der Rückseite einige Notizen und Bemerkungen des Empfängers, aus denen hervorgeht, daß dem Adressaten seine künstlerischen Ambitionen verleidet wurden. Es scheint sogar, daß der Adressat schon bald darauf das Land verlassen haben könnte – was im übrigen das Auffinden desselben erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Hervorzuheben ist hierbei die folgende Notiz:
"Die harten Urteile der Menschen werden mich so lange herumtreiben, bis ich am Ende wenigstens aus Deutschland weg bin."


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