Kassandra
ET
IN ARCADIA EGO
Ein
abenteuerlicher
Spaziergang,
worin der wundersamen Enthüllungen so viele sind,
daß diese Überschrift, um sie zusammenzufassen,
so lang sein müßte wie der ganze Text,
was den Gebräuchen kraß widerspräche
"Komm!
Ich möchte dir etwas zeigen."
Das Wesen nahm ihre Hand, und es veränderte sich alles. Sie saß
nicht mehr im Leseraum der Bibliothek, sondern stand auf der Lichtung
eines Waldes. Das Sonnenlicht fiel schräg durch hellgrüne Blätter
großer Bäume und verfing sich in Spinnweben, die wie Edelsteinschnüre
leuchteten. Für einen kleinen Moment versank die Welt in absolute
Stille.
"Wo sind wir? Was ist passiert? Warum bin ich nicht in der Bibliothek?
Das träume ich doch alles nur!"
"Du träumst nicht. Oder vielleicht doch, denn Träume sind
Schriften und viele Schriften sind nichts als Träume. Du bist noch
immer in der Bibliothek. Im Moment siehst du sie allerdings so, wie wir
sie sehen."
"Wer ist wir? Und warum sehe ich das alles so wie »wir«?
Was mache ich hier eigentlich?"
"Du wolltest dich einmal wirklich in der Bibliothek befinden und
nicht immer nur als Nutzer durch die Gänge gehen. Jetzt bist du in
der Bibliothek. Allerdings nicht in dieser einen, sondern in der unendlichen
Welt der Texte. Der Wald hier ist unser Universum. Jeder Text ist in seiner
Gänze im ganzen Wald enthalten, und der Wald repräsentiert jeden
einzelnen Text und gleichzeitig die Gesamtheit aller Texte. Doch obwohl
diese Welt einerseits unendlich ist, ist sie andererseits auch begrenzt.
Der Wald ist eine Heterotopie. Du bist durch den Spiegel getreten, der
uns von der Welt der Menschen trennt."
Das Wesen drehte sich mit ausgebreiteten Armen einmal um sich selbst und
wandte sich dann ihr zu.
"Nun
zu deiner Frage, wer »wir« sind. Wir sind die Figuren, die
die Texte bevölkern. Und ich bin eine von ihnen; die Figur aus einen
Buch."
"So ein Blödsinn! Figuren aus Büchern sind fiktional, gedacht.
Sie leben nicht. Und sie können nicht einfach reden. Schon gar nicht
außerhalb ihres eigenen Textes und außerhalb ihrer Rolle,
die sie darin spielen."
"Aber natürlich können wir uns außerhalb unseres
ursprünglichen Textes bewegen. Wir wandern umher, besuchen Freunde
in anderen Schriften, treffen uns, wenn neue Leute ankommen und amüsieren
uns darüber, wie wir zum Beispiel in Interpretationen dargestellt
werden. Das macht am meisten Spaß. Obwohl man in einen Spiegel schaut,
der das Bild verzerrt zurückwirft."
"Dir
ist sicherlich klar, daß das alles ein wenig unglaubwürdig
klingt. Allerdings bin ich bereit, dir zuzuhören. Also, beweise daß
du eine fiktionale Gestalt bist!"
"Und wie soll ich das machen? Ich kann keine Wunder vollbringen oder
dergleichen. Ich bin nur eine ganz einfache Figur aus einem ganz einfachen
Roman aus dem 20. Jahrhundert, wie ihr das nennt."
"Wenn du eine fiktionale Figur bist und hier sozusagen lebst, müssen
noch mehr von euch da sein. Zeige sie mir, und zeig mir, wie dieser Wald,
denn das scheint es ja im Moment zu sein, beschaffen ist."
"Okay! Siehst du den Weg? Da müssen wir lang."
Als
sie sich umschaute, sah sie verschiedene Wege, die von der Lichtung ausgingen.
Manche waren breit und schienen oft benutzt zu werden. Andere waren schmale
Pfade, die sich schnell im Dickicht verloren. Sie hatte das vorher nicht
bemerkt. Oder waren die eben erst aufgetaucht? Sie mußte sich beeilen,
um dem Wesen folgen zu können.
"Hey, warte! Lauf nicht so schnell!"
Als sie ihn eingeholt hatte, ergriff sie seinen Arm.
"Wie heißt du eigentlich? Du hast dich noch nicht vorgestellt."
"Mein Name tut nichts zur Sache. Nur so viel: Ich stamme aus einem
wirklich dicken Buch und ich habe viel ausprobiert, bis ich zu dem geworden
bin, was ich jetzt bin."
"Und, wie soll ich dich nun nennen?"
"Wie wäre es mit Garcia? Ja, nenn mich Garcia!"
Sie
sah sich die Bäume an und überlegte, welcher Art sie wohl angehörten.
Sie war sich sicher, solche noch nie gesehen zu haben. Die Stämme
waren glatt und silbrig, das Laub geformt wie Lindenblätter, doch
größer und golden schimmernd. Sie wurde an etwas erinnert,
das sie gelesen hatte. Mallornbäume! So könnten Mallornbäume
aussehen!
Es
war ein wenig zauberisch, weil das Licht sich ständig veränderte,
als würde die Sonne nicht ihrer üblichen Bahn folgen, sondern
willkürlich ihren Standort wechseln.
"Eine Sache verstehe ich nicht: Warum verändert sich andauernd
der Lichteinfall? Ist in einem Buch die Handlung nicht auch an Zeit gebunden
und daran, wie man sich in der echten Welt Zeit vorstellt? Du weißt
schon: Sonnenaufgang und Sonnenuntergang?"
"In einem Buch durchaus, aber du vergißt, daß wir uns
in der Bibliothek befinden, in der Welt der Texte, nicht in einem Buch.
Hier findet jeder Zeitabschnitt sozusagen gleichzeitig statt. Es ist Sonnenaufgang
und Sonnenuntergang, Mittag und Mitternacht. Deshalb verändert sich
auch das Licht so unregelmäßig. Manchmal sind wir selbst davon
verwirrt. Dann gehen wir in unsere eigenen Texte zurück und erholen
uns."
"Das heißt, wir können nicht feststellen, wie lange ich
mich hier drin befinde?"
"Richtig. Zeit, wie du sie kennst, spielt hier keine Rolle. Du hast
dadurch alle Zeit der Welt, nicht nur symbolisch, sondern wahrhaftig.
Allerdings nur die schon gewesene Zeit. Du kannst dich nicht in die Zukunft
bewegen. Es gibt ja nur die Texte, die bis zu deinem Eintritt in unsere
Welt produziert worden sind."
"Aber wie soll ich denn dann wissen, wann ich wieder zurück
muß? Vielleicht verpasse ich die Bibliotheksschließung!"
"Mach dir darüber jetzt keine Sorgen. Du kannst doch nicht ans
Zurückgehen denken, wenn du noch nicht einmal richtig da bist!"
Nach
einer Weile, sie bogen gerade um einen großen Strauch, lief ihnen
ein Mann in Mönchskutte über den Weg.
"Hallo, William. Gut, daß wir dich treffen. Ich habe hier eine
junge Dame dabei, die sich gewünscht hat, in der Bibliothek zu sein.
Ich wollte sie ein wenig herumführen. Was hältst du davon, dich
uns anzuschließen?"
Der Mann war stehengeblieben und betrachte sie eingehend.
"Aha, ein Gast. Und dazu noch ein so hübscher; obwohl ich so
etwas wohl nicht sagen sollte, in meiner Position. Gut, ich werde euch
begleiten. In letzter Zeit hatte ich doch etwas Langeweile. Das ist eine
willkommene Abwechslung."
Sie war irritiert.
"Entschuldigung,
William ich darf sie doch William nennen? Wer sind sie? Sie kommen
mir bekannt vor. Aber was ich eigentlich meine, ist: Wieso Abwechslung?
Haben sie denn in ihren Geschichten nicht genug zu tun?"
"Erstens: Du darfst mich William nennen. Zweitens: Ich bin William
von Baskerville, Franziskanermönch und Bücherliebhaber. Drittens:
Natürlich haben wir genug zu tun, aber manchmal macht es Spaß,
auf Entdeckungsreise zu gehen. Normalerweise besuche ich die Neuankömmlinge,
was jedoch in letzter Zeit eher unergiebig war. Natürlich ist es
auch lehrreich, sich mit alten Figuren zu unterhalten, aber viele haben
immer nur ein und das selbe zu sagen. Für meinem Wissensdurst ist
das etwas dürftig."
"Ich erinnere mich an sie. Ich habe das Buch gelesen, in dem sie
erscheinen, oder sagt man besser, in dem sie geboren worden sind?"
"Erscheinen ist gut, geboren worden sein kann man es aber auch nennen.
Je nachdem, welcher Theorie du anhängst. Es gibt die einen, die sagen,
der Autor erfinde seine Figuren; und die anderen, die denken, die Figuren
suchten sich ihren Autor. Als Anhänger der ersten Meinung kannst
du von Geboren werden sprechen. Wenn du die zweite favorisierst, solltest
du von Erscheinen reden. Mir persönlich wäre es ja lieber, mir
meinen Autor ausgesucht zu haben, aber das ist etwas, worüber wir
Figuren nichts wissen."
"Ihr wißt nicht, ob ihr schon vor dem Autor vorhanden wart?
Das verstehe ich nicht. Ihr müßt doch wissen, wo ihr herkommt!"
"Weißt du denn, wo du herkommst?"
Sie
druckste ein wenig herum. Es war klar, daß er nicht die Affengeschichte
hören wollte. Auch nicht die Sache mit dem Sex. Wahrscheinlich hatte
er das alles schon gelesen.
"Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll. Die Fragen, wie
Leben entsteht, wie das Bewußtsein in die Welt gekommen ist
Die Frage, was zuerst da war: Ei oder Henne. Sie wissen doch ganz genau,
daß die Menschen keine Antwort darauf gefunden haben. Sie suchen
und suchen, erfinden Götter, töten sie, werden von ihnen getötet
William, sie sind ganz schön unfair!"
"Sei nicht so empfindlich! Du gehörst zur Welt der Menschen.
Wir Figuren können leider nicht schöpfen und verehren euch Menschen,
weil ihr das könnt. Nur laßt ihr uns ständig die unmöglichsten
Dinge tun, da darf ich dir auch mal eine etwas kompliziertere Frage stellen.
Wenn du Gott träfest, stelltest du ihm nicht auch Fangfragen?"
"Tut mir leid."
Schuldbewußt senkte sie den Kopf, hob ihn aber gleich wieder, weil
ihr etwas eingefallen war.
"Gibt
es eigentlich Dinge von uns, die ihr nicht wißt?"
"Wir wissen all das über die Menschen, was sie aufgeschrieben
haben. Denn uns Figuren steht immer die ganze Enzyklopädie zur Verfügung.
Wie du weißt, reden Texte immer über Texte. Ein Text und seine
ihm innewohnenden Figuren können jeden anderen Text aus sich selbst
heraus aktualisieren. Jedes einzelne Wort hat hinter sich ein Universum
von anderen Worten, jede Figur ein Universum von anderen Figuren. Da das
alles in uns enthalten ist, können wir es jederzeit abrufen. Wir
sind nicht wie ihr darauf angewiesen, alles erst zu lesen. Wir wissen
es einfach. Leider sind wir trotz unseres Wissens ohnmächtig, da
wir nicht direkt in die Welt der Menschen eingreifen können."
"Aber was ist mit Fragen, auf die wir keine Antwort finden?"
"Die können wir auch nicht beantworten, oder wollen wir nicht
beantworten können. Wir wissen das, was ihr wißt. Sonst wüßten
wir ja, wo wir herkommen."
Gedankenverloren
lief sie neben den beiden her. Als sie aufsah, schimmerte zwischen ein
paar besonders dicken Baumstämmen etwas weißes.
"Seht mal da! Was ist das?"
"Das ist ein Einhorn,
was denn sonst?"
"Ein Einhorn! Man glaubte,
sie ließen sich nur von Jungfrauen fangen! Und man hat schon lange
keines mehr gesehen. Hier, mitten in der Bibliothek, sehe ich ein Einhorn!"
Garcia rollte mit den Augen.
"Na, nun krieg dich wieder ein! Natürlich gibt es hier Einhörner.
Ihr habt sie doch in eurer Phantasie erschaffen."
William schmunzelte, als er zu einer Erklärung ansetzte.
"Dir war sicherlich vorher klar Einhörner zu finden. Du warst
nur erstaunt, als du tatsächlich eines gesehen hast. Sei froh, daß
du nicht in deiner Welt einem begegnet bist. Da sind die nämlich
nicht so schön weiß und anmutig, sondern groß, plump
und ziemlich gefährlich."
Sie
schaute über den Rand ihrer Brille zu ihm hoch.
"William, entschuldigen sie meine Unhöflichkeit, aber sie sind
ein Klugscheißer. Darf ich denn nicht träumen? Sie sollten
immer bedenken, daß ohne die Träume der Menschen das hier alles
nicht möglich wäre, sie nicht möglich wären!"
"Verzeih', ich habe dich wohl unterschätzt!"
"Ich
möchte euch schrecklich viele Fragen stellen. Vielleicht wäre
es hilfreich, wenn wir uns irgendwo hinsetzten. Dann kann ich besser denken.
Beim Spazierengehen bin ich zu abgelenkt."
Die drei gingen noch ein Stück weiter und setzten sich dann auf einen
umgestürzten Baumstamm.
"Habt
ihr Gefühle?"
"Natürlich. Wenn wir in einer Erzählung erscheinen, haben
wir auch Gefühle. Zuerst sind wir daran gebunden, wie wir in der
erzählten Geschichte fühlen sollen. Später, wenn wir in
anderen Texten zu Gast sind, verändern wir uns. Allerdings können
wir uns nur so verändern, wie ihr euch verändert. Wir wissen
zwar alles, aber wir sind nicht immer frei in unserer Entscheidung, ob
wir dieses Wissen aktualisieren können."
"Das heißt also, wenn eine Figur in ihrem ersten Text arrogant
ist, kann sie durch uns später zu einer unsicheren Figur werden.
Wenn eine Figur erst nicht sehr klug ist, kann sie Erfahrung sammeln."
"Das mit den Charaktereigenschaften hast du gut erkannt. Klug oder
nicht ist aber noch etwas anderes. Jede Figur kann klug sein, aber der
Autor legt fest, ob sie klug erscheinen soll."
"Ihr seid also eigentlich alle gleich klug, seht aber nicht immer
so aus."
Sie rieb sich grübelnd die Wange.
"Sagt
mal, ihr wißt zwar nicht, wo ihr herkommt, aber vielleicht, wo ihr
hingeht. Könnt ihr sterben?"
"Nein! Figuren sterben nicht. Wir können von Menschen vergessen
werden, sogar von der Menschheit, aber wir bleiben trotzdem am Leben,
weil Figuren Figuren nicht vergessen. Jede Schrift schwingt in uns, also
auch jede Figur. Allerdings ziehen sich vergessene Figuren meistens aufs
Altenteil zurück und laufen nie durch den Wald. Es gibt ein Gebiet,
das ihnen vorbehalten ist. Aber es freut sich niemand, wenn er dort hingeschickt
wird. Ich war mal zu Forschungszwecken dort. Sie sind sehr einsam. Ich
hoffe, das bleibt mir noch eine Weile erspart."
"Ihr seid also quasi unsterblich, nicht an die Zeit gebunden, da
ihr nur in eurer eigenen Geschichte altert. Wenn ihr die verlaßt,
seid ihr davon entbunden. Ihr habt Gefühle, ihr wißt alles,
was jemals geschrieben worden ist. Kennt ihr die Texte, die noch geschrieben
werden?"
Garcia
runzelte die Stirn.
"Du hast nicht aufgepaßt. Ich habe dir am Anfang gesagt, du
hättest alle Zeit der Welt, jedoch nur die Zeit der Texte, die bis
zu deinem Eintritt in unsere Welt geschrieben worden sind. Das bedeutet
auch, daß dir und uns die Texte der Zukunft nicht zur Verfügung
stehen. Wir Figuren können sie ahnen, aber wir wissen sie nicht.
Erst, wenn sie geschrieben werden, gehen sie in unser Wissen ein."
William schaltete sich mit langem Räuspern ein.
"Na ja, vielleicht ist das noch ein bißchen anders. Die Figuren
ahnen jeden möglichen Text, könnten ihn auch generieren, tun
es aber nicht, da sie ihn nicht in die Außenwelt transportieren
können. So, wie wir aus verschiedenen Büchern ein schon vorhandenes
Buch anfertigen können, so ist es uns auch möglich, nicht vorhandene
Bücher zu denken. Es ist nicht wichtig für uns, ob uns zukünftige
Texte in der Gegenwart zur Verfügung stehen. Die Generierung eines
Textes macht für uns keinen Sinn auf Grund unserer Ohnmacht in bezug
auf eure Welt. Selbst, wenn wir den alle Mysterien lösenden Text
erzeugen könnten, hätten wir nicht die Möglichkeit, ihn
zu euch zu schicken, um euch zu erleuchten. Manchmal glaube ich, unser
ganzes Wissen ist ein riesiger Schwindel. Wir Figuren sind ohnmächtig,
und die Texte sind es auch. Sie können nichts dafür, daß
sie geschrieben werden, können sich nicht gegen Mißbrauch durch
den Leser wehren und müssen mit ihren möglichen Auslegungen
leben."
Für
eine Weile verfielen die drei in Schweigen, und jeder hing seinen Gedanken
nach. Sie konnte Williams Zweifel gut nachvollziehen, hatte sie doch selbst
oft das Gefühl, daß ihr ganzes Wissen nichts nützte, mit
diesem die Welt nicht verändert werden konnte. Aber sie schüttelte
diese Anwandlung ab und besann sich auf ihre Fragen.
"Was
ist eigentlich mit den Autoren?"
"Was soll mit denen sein? Da hinten kommt Kleist!"
Garcia stand auf und winkte einer Gestalt zu, die gerade abbiegen wollte.
"Hallo, Heinrich! Komm her! Wir haben einen Gast."
Die Heinrich genannte Gestalt kam zu ihnen.
"Ich begrüße euch. Wen haben wir denn da? Konntest du
dich wieder nicht zurückhalten, Garcia, als du so viel Schönheit
und Wissensdurst auf einem Haufen gesehen hast?"
Er setzte sich zu ihnen.
"Heinrich
von Kleist! Warum sind sie in diesem Wald? Ich dachte, hier gäbe
es nur Figuren aus Büchern?"
"Also: Ich bin auch eine Figur aus einem Buch, beziehungsweise aus
mehreren Büchern. Du scheinst mich mit dem wirklichen Heinrich von
Kleist zu verwechseln, der seit ungefähr zweihundert Jahren eurer
Zeit tot ist. Ich habe eigentlich nur den Namen mit ihm gemein, da ich
das repräsentiere, was ihr Menschen über ihn geschrieben habt,
also über ihn wißt."
"Sie meinen wohl: Was wir über ihn zu wissen glauben!"
"Wenn du willst, kannst du das auch so nennen. Wir wissen, daß
ihr euch ständig fragt, was Realität ist, ob es Wirklichkeit
gibt oder eine objektive Wahrheit. Das ist etwas, was wir nicht nachvollziehen
können, da unsere Wirklichkeit sowieso eine fiktive ist, die sich
so verändert, wie ihr es wollt. Wenn die Menschen eines Tages nicht
mehr an das Einhorn glauben,
wird es nicht mehr auf den großen Wegen des Waldes umherstreifen,
sondern sich zurückziehen. Dann können auch wir uns nicht mehr
an seiner Schönheit erfreuen. Der Wald, unsere Welt, ist in seiner
Existenz abhängig von der Existenz des Menschen. Seine Form hängt
von der Art der Texte ab, die produziert werden, und vom Umgang der Menschen
mit Texten."
Wieder
ergriff William das Wort.
"Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr wir bei jeder Bücherverbrennung
trauern, und es gab im Laufe der Menschheitsgeschichte schon einige. Ich
möchte dich an die Bibliothek von Alexandria erinnern, an die Bilderstürmer,
an die Bücherverbrennung im 3. Reich, um nur drei Beispiele zu nennen.
Jedesmal zieht ein Sturm über uns hinweg. Aber genug von solch
traurigen Dingen! Sieh mal! Da kommt jemand, der dir das vielleicht alles
besser erklären kann."
Als sie aufblickte, sah sie sich selbst ins Gesicht.
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