TempelAusgabe 3
28. Juli 2002
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Wer ist Empedokles? Empedokles

Patzke

Oder

Über die Grenzen der Bildhauerei

(Auszug)

 

Vorrede

Der erste, welcher die Bildhauerei und die Dichtkunst miteinander verglich, war ein Mensch von feinem Gefühle, der von beiden Künsten ein ähnliche Wirkung auf sich verspürte. Beide, empfand er, stellten uns abwesende Dinge als erlebbar, den Schein als partikular real vor; beide täuschten, und beider Täuschung gefällt.
Ein zweiter suchte ins Innere dieses Gefallens einzudringen und entdeckte, dass es bei beiden aus einerlei Quelle fließe. Das Ästhetische hat trotz allgemeiner Einwürfe doch allgemeine Regeln, die sich auf mehrere Dinge anwenden lassen; auf Handlungen, auf Gedanken sowohl als auf Formen und gar Prozesse.
Ein dritter, welcher über den Wert und die Verteilung dieser allgemeinen Regeln nachdachte oder hätte nachdenken sollen, bemerkte, dass einige mehr in der Bildhauerei, andere mehr in der Schriftstellerei herrschten, dass also bei diesen ein Text die Skulptur, bei jenen die Skulptur den Text mit Erläuterungen und Beispielen aushelfen könne.
Der erste war ein Liebhaber, der zweite ein Philosoph; das dritte der Kritiker.
Jene beiden konnten nicht leicht weder von ihrem Gefühl noch von ihren Schlüssen einen unrechten Gebrauch machen. Hingegen bei den Bemerkungen des Kritikers beruhet das meiste in der Richtigkeit der Anwendung auf den einzelnen Fall; und es wäre ein Wunder (da es gegen einen scharfsinnigen Kritiker fünfzig stammelnde gegeben hat), wenn die Anwendung jederzeit mit all der Vorsicht wäre gemacht worden, welche die Waage zwischen beiden Künsten gleich erhalten muss.
Völlig aber, als ob sich gar keine solche Verschiedenheit fände, haben viele der neuesten Kunstrichter aus jener (mich dünkt nur scheinbaren) Übereinstimmung der Bildhauerei und der Dichtkunst die krudesten Dinge von der Welt geschlossen. Bald zwingen sie die Schriftstellerei in die Schranken der Bildhauerei; bald lassen sie die Bildhauerei die Sphäre der Schriftstellerei füllen. Alles, was der einen recht ist, soll auch der anderen vergönnt sein; alles, was in der einen gefällt oder missfällt, soll notwendig auch in der anderen gefallen oder missfallen; und voll von dieser Idee, sprechen sie in dem zuversichtlichsten Tone die seichtesten Urteile, wenn sie in den Werken des Schriftstellers und Bildhauers über einerlei Vorwurf die darin bemerkten Abweichungen voneinander zu Fehlern machen, die sie dem einen oder dem anderen je nach Geschmack zu Last legen.

I

Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der modernen Meisterwerke in der Bildhauerkunst setztet Herr Weinz in tektonische Gelassenheit und antike Statuarik, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. "Die Silhouette der Figuren", sagt er, "wird geschlossen. Vereinfachte Formen sind das vorzügliche Kennzeichen. Vorrang vor der ästhetischen Qualität hat der Charakter des Bildwerkes. Folglich kann die Schönheit des Kunstwerkes in seiner Hässlichkeit und Deformation begründet sein - eine Umkehrung ästhetischer Hierarchien, die die moderne Kunst generell kennzeichnet. ... Dies Verhältnis schildert sich in dem Gesichte, ja in dem ganzen Körper des Patzke. Das Unschöne, welches sich in allen Gliedern, dem professoralem Gewande und dem man ganz allein, ohne das entglittene Gesicht und andere Teile zu betrachten, im schelmisch aufgestütztem Fuße begegnet, bewirkt ein ästhetisches Urteil, welches der partiellen Form widerspricht. Doch diese Schönheit äußert sich nicht in den einzelnen Teilen, sondern in der Weise der Präsentation: Durch die Isolierung aus seinem funktionalen Zusammenhang erhält Patzke, der der Hand des Künstlers scheinbar nicht mehr bedurfte, die Aura der Kunst - Patzke wird zu einer Sache der Definition und des künstlerischen Konzeptes. Statt der Endgültigkeit und der Einmaligkeit eines Werkes betont Patzke den Prozesscharakter. ... Die Grenzen zwischen hoher und niederer Kunst lösen sich im Patzke auf. Normen des offenen Kunstbegriffs liegen nicht mehr von Anfang fest, sondern müssen beim Betrachten jeweils neu formuliert und durchgesetzt werden. ...
Der Schmerz des Alltäglichen und die Enge der Seele sind durch den ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam abgewogen. Patzke leidet ... . Sein Mühsal gehet uns nah und wir wünschen, wie dieser große Mann für einen Augenblick der Plagen entsagen zu können. ..."
Die Beobachtung, welche der Beschreibung hier zum Grunde liegt, ist vollkommen richtig. Auch das ist unstreitig, dass eben hierin, wo ein Halbkenner den Künstler nur nachahmen sieht, die wahre tektonische Gelassenheit der Langeweile nicht erreicht zu haben urteilen dürfte; dass, sage ich, eben hierin die Weisheit derselben ganz besonders hervorleuchtet.
Nur in dem Grunde, welchen Herr Weinz dieser Weisheit gibt, in der Allgemeinheit der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage ich es, anderer Meinung zu sein. ...
Ich weiß es, wir feinern Europäer einer klügern Parallelwelt wissen über unsere Gestik und Mimik besser zu herrschen. Ethos und Anstand, dies lehrte Weber, verbieten Müßiggang und Passivität. Die tätige Tapferkeit der untern Welt hat sich bei uns in eine reflexive gewandelt. ... In unstreitig seltenen Momenten aller Pflichten entsagen, den Vorgestellten mit kynischem Blick im alten Sinne entgegensehen, unter der Knute von Abhängigkeiten lachend geringes genießen, sind Züge dieser untern Welt. ...
Alles Gewöhnliche ist jenen feinern Europäern, von welchen man in hiesigen Gegenden vortrefflichste findet, in seinem ursprünglichsten Kontext untheatralisch; und unser Fühlen ist allzeit dem Verstand gleichmäßig, welches der interessierte Gegenstand äußert. ... Sieht man Patzke sein Elend mit leerer Mine ertragen, so wird dieser Ausdruck zwar unsere Bewunderung erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen untätiges Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie jede andere deutliche Vorstellung ausschließet. ...
Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung. Wenn es war ist, dass das Gähnen bei Empfindung unbotmäßiger Langeweile gar wohl mit einer tätigen Seele bestehen kann, so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache nicht sein, warum demohngeachtet der Künstler in seinem Patzke dies Gähnen nicht nachahmen wollen; sondern es muss einen anderen Grund haben, warum er hier von seinen Nebenbuhler, dem Schriftsteller, abgehet, der dieses Gähnen mit besten Vorsatz ausdrückt.

IV

Es sei Fabel oder Geschichte, Mythos oder Legende, frühromantisches Kalkül oder anthropologische Konstante, dass die Liebe den ersten Versuch in den bildenden Künsten gemacht habe: So viel ist seit Lessing gewiss, dass sie den großen Meistern aller vergangenen Zeiten die Hand zu führen nicht müde geworden. Denn wird itzt die Bildhauerei überhaupt als Kunst, welche beredt zu uns zu sprechen scheint, anerkannt, so hatten die empfindsamsten Klassiker ihr weit engere Grenzen gesetzet und sie auf die Schönheit - welches das Ästhetische überhaupt war - eingeschränkt. Die Vollkommenheit des ideellen Gegenstandes selbst musste in ihren Werken entzücken; sie waren wahrlich zu groß, von ihren Betrachtern zu verlangen, dass sie sich mit dem bloßen kalten Vergnügen, welches aus der Erwägung ihrer vortrefflichen Schicklichkeit entspringet, begnügen sollten; an ihrer Kunst war ihnen nichts lieber, dünkte ihnen nichts edler als das wieder und wieder postulierte Endziel der Kunst. ...
Nun gibt es Leidenschaften und Grade von Leidenschaften, die sich in dem Gesichte durch die hässlichsten und gewöhnlichsten Verzerrungen äußern und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen setzen, dass all die schönen Linien, die ihn in einem ruhigen und ausgewogenem Stande umschreiben, verloren gehen. Dieser enthalten sich also die großen Künstler nach wie vor entweder ganz oder setzen sie auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines Maßes von Schönheit noch fähig sind.
Und dieses nun auf den Patzke angewendet, so ist die Ursache klar, die ich suche: Der Meister arbeitete auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen des geistigen und körperlichen Zustandes. Dieser, in aller seiner Entstellung, war mit jener nicht zu verbinden.. Er musste ihn also herabsetzen, er musste Gähnen in tumbes Lächeln mindern, nicht weil das Gähnen gleich ein einfaches Gemüt verrät, sondern weil es das Gesicht auf unedle Weise entstellt. Denn man reiße dem Patzke in Gedanken nur den Mund auf und urteile. Man lasse ihn Gähnen und sehe. ...

IIX

Aber, wie schon gedacht, die Kunst hat in den neuern Zeiten ungleich weitere Grenzen erhalten. Ihr Schaffen, sagen alle seit Schlegel, erstrecke sich auf Welt im allerweitesten Sinne - sie sei Welt; Ausdruck und Aussage - und manchmal bloße Existenz - sei ihr erstes Gesetz.
So kann der Künstler von der immer veränderlichen Welt letzten Endes nie mehr als einen einzigen Augenblick und der Bildhauer insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur einen einzigen Gesichtspunkte, bannen; sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden, so ist es gewiss, dass jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblicks nicht fruchtbar genug gewählt werden kann. Dasjenige aber allein ist nur fruchtbar, was der Einbildungskraft freies Spiel lässt - ästhetisch im kantischen Sinne ist. Je mehr wir sehen, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. Je mehr wir zu sehen glauben, desto mehr müssen wir hinzudenken können. ...
In dem ganzen Gefolge eines Affektes ist aber kein Augenblick, der diesen Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen - wie es in der laufenden Bildkunst oft geschehet - heißt der Phantasie die Flügel binden. Wenn Patzke also leer lächelt, so kann ihn die Einbildungskraft gähnen hören, wenn er aber entsetzlichst gähnte, so kann sie von dieser Vorstellung weder eine Stufe höher noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in einen leidlicheren und folglich uninteressanteren Zustande zu erblicken. Sie hört ihn erst schielend einatmen, oder sie sieht ihn schon schmatzen. ...

XIV

Ich übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister des Patzke in dem Ausdruck der Langeweile hat Maß halten müssen, und finde, dass sie allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst und von derselben notwendigen Schranken und Bedürfnisse hergenommen sind. Schwerlich dürfte sich also irgendeine derselben auf die Schriftstellerei anwenden lassen. ...
Nichts nötiget hiernächst den Dichter - auch wenn er es könnte und gar mancher (mit jedoch mäßigen Erfolg) es versuchte - nichts nötiget den Dichter, sein Werk in einen einzigen Augenblick zu konzentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem Ursprunge auf und führet sie durch alle möglichen Änderungen bis zu ihrer Endschaft und mehrerer dieser Art. Jede dieser Änderungen, die dem Bildhauer ein ganz neues Stück kosten würde, kostet ihn einen einzigen Zug, und würde dieser Zug für sich betrachtet die Einbildung des hohen Lesers beleidigen, so war er entweder durch das vorhergehende so vorbereitet oder wird durch das folgende so gemildert und vergütet, dass er seinen einzigen Eindruck verliert und in der Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt tut. ... Wäre es also auch wirklich einem Manne unanständig, in der Überwältigung des Augenblickes zu gähnen, was kann diese kleine überhingehende Unanständigkeit demjenigen bei uns für Nachteil bringen, dessen andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben? ... Wer muss nicht vielmehr bekennen: Wenn der Meister wohl tat, dass er den Patzke nicht gähnen ließ, so tut der Schriftsteller ebenso wohl, wenn er ihn aufs erschrecklichste gähnen lässt!

XXI

Das Gestalten einer einzigen Skulptur ist unendlich schwerer als das Gestalten in Worten, und wenn wir Erfindung und Gestaltung gegeneinander abwägen, so sind wir unstreitig jederzeit geneigt, dem Meister der Bildhauerkunst an der einen so viel wiederum zu erlassen, als wir an der anderen zu viel erhalten zu haben meinen. ...
In der Tat hat der Dichter einen großen Schritt voraus, welcher eine bekannte Geschichte, bekannte Charaktere behandelt. ... Es ist dies der Vorteil, den die Klassiker nutzten und den mit viel Esprit Schlegel forderte und viele neben und nach ihn - je unbewusster desto erfolgreicher - neu einlösten. ... Diesen Vorteil der Mythen hat auch der Bildhauer, wenn uns sein Vorwurf nicht fremd ist, wenn wir mit dem ersten Blicke die Absicht und Meinung seiner ganzen Komposition erkennen, wenn wir auf eins seine Personen nicht bloß sehen, sondern auch hören, schmecken und fühlen. ...
Von dem ersten Blicke hanget die größte Wirkung ab, und wenn uns dieser zu mühsamen Nachsinnen und Raten nötiget, so erkaltet unsere Begierde, geistig angesprochen zu werden; um uns an den unverständlichen Künstler zu rächen, verhärten wir uns gegen den Ausdruck. Wir finden sodann gar nichts, was uns reizen könnte, vor seinem Werke zu verweilen; was wir sehen gefällt uns nicht, was wir dabei denken können, wissen wir nicht. ... Es sind derartige Mechanismen, die die bildende Kunst in den neuesten Zeiten vom pulsierenden Leben in die Asservatenkammern den Kunstkritikern höriger Exzentriker trieb. ...
Es wurde mithin versucht, jene Unwissenheit mit mancher rhetorischen Gewandtheit dem übervollen Geiste gar als Tor in eine kunstvolle und künstliche Welt zu offenbaren. Man lese die Kritiker dieser Schule, vergleiche deren wohlfeilen Ergüsse und urteile selbst: Jenes große Postulat, der Weg führe nach innen, erschöpft sich bei diesen in dem zartesten Klopfen am Tore des menschlichen Geistes; ihre Urteile sind wahrhaft beliebig ...

(Der Autor distanziert sich von großen Teilen des Inhalts dieses Textes.)
 

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