Empedokles
Patzke
Oder
Über
die Grenzen der Bildhauerei
(Auszug)
Vorrede
Der
erste, welcher die Bildhauerei und die Dichtkunst miteinander verglich,
war ein Mensch von feinem Gefühle, der von beiden Künsten ein
ähnliche Wirkung auf sich verspürte. Beide, empfand er, stellten
uns abwesende Dinge als erlebbar, den Schein als partikular real vor;
beide täuschten, und beider Täuschung gefällt.
Ein zweiter suchte ins Innere dieses Gefallens einzudringen und entdeckte,
dass es bei beiden aus einerlei Quelle fließe. Das Ästhetische
hat trotz allgemeiner Einwürfe doch allgemeine Regeln, die sich auf
mehrere Dinge anwenden lassen; auf Handlungen, auf Gedanken sowohl als
auf Formen und gar Prozesse.
Ein dritter, welcher über den Wert und die Verteilung dieser allgemeinen
Regeln nachdachte oder hätte nachdenken sollen, bemerkte, dass einige
mehr in der Bildhauerei, andere mehr in der Schriftstellerei herrschten,
dass also bei diesen ein Text die Skulptur, bei jenen die Skulptur den
Text mit Erläuterungen und Beispielen aushelfen könne.
Der erste war ein Liebhaber, der zweite ein Philosoph; das dritte der
Kritiker.
Jene beiden konnten nicht leicht weder von ihrem Gefühl noch von
ihren Schlüssen einen unrechten Gebrauch machen. Hingegen bei den
Bemerkungen des Kritikers beruhet das meiste in der Richtigkeit der Anwendung
auf den einzelnen Fall; und es wäre ein Wunder (da es gegen einen
scharfsinnigen Kritiker fünfzig stammelnde gegeben hat), wenn die
Anwendung jederzeit mit all der Vorsicht wäre gemacht worden, welche
die Waage zwischen beiden Künsten gleich erhalten muss.
Völlig aber, als ob sich gar keine solche Verschiedenheit fände,
haben viele der neuesten Kunstrichter aus jener (mich dünkt nur scheinbaren)
Übereinstimmung der Bildhauerei und der Dichtkunst die krudesten
Dinge von der Welt geschlossen. Bald zwingen sie die Schriftstellerei
in die Schranken der Bildhauerei; bald lassen sie die Bildhauerei die
Sphäre der Schriftstellerei füllen. Alles, was der einen recht
ist, soll auch der anderen vergönnt sein; alles, was in der einen
gefällt oder missfällt, soll notwendig auch in der anderen gefallen
oder missfallen; und voll von dieser Idee, sprechen sie in dem zuversichtlichsten
Tone die seichtesten Urteile, wenn sie in den Werken des Schriftstellers
und Bildhauers über einerlei Vorwurf die darin bemerkten Abweichungen
voneinander zu Fehlern machen, die sie dem einen oder dem anderen je nach
Geschmack zu Last legen.
I
Das
allgemeine vorzügliche Kennzeichen der modernen Meisterwerke in der
Bildhauerkunst setztet Herr Weinz in tektonische Gelassenheit und antike
Statuarik, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. "Die Silhouette
der Figuren", sagt er, "wird geschlossen. Vereinfachte Formen
sind das vorzügliche Kennzeichen. Vorrang vor der ästhetischen
Qualität hat der Charakter des Bildwerkes. Folglich kann die Schönheit
des Kunstwerkes in seiner Hässlichkeit und Deformation begründet
sein - eine Umkehrung ästhetischer Hierarchien, die die moderne Kunst
generell kennzeichnet. ... Dies Verhältnis schildert sich in dem
Gesichte, ja in dem ganzen Körper des Patzke.
Das Unschöne, welches sich in allen Gliedern, dem professoralem Gewande
und dem man ganz allein, ohne das entglittene Gesicht und andere Teile
zu betrachten, im schelmisch aufgestütztem Fuße begegnet, bewirkt
ein ästhetisches Urteil, welches der partiellen Form widerspricht.
Doch diese Schönheit äußert sich nicht in den einzelnen
Teilen, sondern in der Weise der Präsentation: Durch die Isolierung
aus seinem funktionalen Zusammenhang erhält Patzke,
der der Hand des Künstlers scheinbar nicht mehr bedurfte, die Aura
der Kunst - Patzke wird zu
einer Sache der Definition und des künstlerischen Konzeptes. Statt
der Endgültigkeit und der Einmaligkeit eines Werkes betont Patzke
den Prozesscharakter. ... Die Grenzen zwischen hoher und niederer Kunst
lösen sich im Patzke auf.
Normen des offenen Kunstbegriffs liegen nicht mehr von Anfang fest, sondern
müssen beim Betrachten jeweils neu formuliert und durchgesetzt werden.
...
Der Schmerz des Alltäglichen und die Enge der Seele sind durch den
ganzen Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgeteilt und gleichsam
abgewogen. Patzke leidet ...
. Sein Mühsal gehet uns nah und wir wünschen, wie dieser große
Mann für einen Augenblick der Plagen entsagen zu können. ..."
Die Beobachtung, welche der Beschreibung hier zum Grunde liegt, ist vollkommen
richtig. Auch das ist unstreitig, dass eben hierin, wo ein Halbkenner
den Künstler nur nachahmen sieht, die wahre tektonische Gelassenheit
der Langeweile nicht erreicht zu haben urteilen dürfte; dass, sage
ich, eben hierin die Weisheit derselben ganz besonders hervorleuchtet.
Nur in dem Grunde, welchen Herr Weinz dieser Weisheit gibt, in der Allgemeinheit
der Regel, die er aus diesem Grunde herleitet, wage ich es, anderer Meinung
zu sein. ...
Ich weiß es, wir feinern Europäer einer klügern Parallelwelt
wissen über unsere Gestik und Mimik besser zu herrschen. Ethos und
Anstand, dies lehrte Weber, verbieten Müßiggang und Passivität.
Die tätige Tapferkeit der untern Welt hat sich bei uns in eine reflexive
gewandelt. ... In unstreitig seltenen Momenten aller Pflichten entsagen,
den Vorgestellten mit kynischem Blick im alten Sinne entgegensehen, unter
der Knute von Abhängigkeiten lachend geringes genießen, sind
Züge dieser untern Welt. ...
Alles Gewöhnliche ist jenen feinern Europäern, von welchen man
in hiesigen Gegenden vortrefflichste findet, in seinem ursprünglichsten
Kontext untheatralisch; und unser Fühlen ist allzeit dem Verstand
gleichmäßig, welches der interessierte Gegenstand äußert.
... Sieht man Patzke sein Elend
mit leerer Mine ertragen, so wird dieser Ausdruck zwar unsere Bewunderung
erwecken, aber die Bewunderung ist ein kalter Affekt, dessen untätiges
Staunen jede andere wärmere Leidenschaft, so wie jede andere deutliche
Vorstellung ausschließet. ...
Und nunmehr komme ich zu meiner Folgerung. Wenn es war ist, dass das Gähnen
bei Empfindung unbotmäßiger Langeweile gar wohl mit einer tätigen
Seele bestehen kann, so kann der Ausdruck einer solchen Seele die Ursache
nicht sein, warum demohngeachtet der Künstler in seinem Patzke
dies Gähnen nicht nachahmen wollen; sondern es muss einen anderen
Grund haben, warum er hier von seinen Nebenbuhler, dem Schriftsteller,
abgehet, der dieses Gähnen mit besten Vorsatz ausdrückt.
IV
Es
sei Fabel oder Geschichte, Mythos oder Legende, frühromantisches
Kalkül oder anthropologische Konstante, dass die Liebe den ersten
Versuch in den bildenden Künsten gemacht habe: So viel ist seit Lessing
gewiss, dass sie den großen Meistern aller vergangenen Zeiten die
Hand zu führen nicht müde geworden. Denn wird itzt die Bildhauerei
überhaupt als Kunst, welche beredt zu uns zu sprechen scheint, anerkannt,
so hatten die empfindsamsten Klassiker ihr weit engere Grenzen gesetzet
und sie auf die Schönheit - welches das Ästhetische überhaupt
war - eingeschränkt. Die Vollkommenheit des ideellen Gegenstandes
selbst musste in ihren Werken entzücken; sie waren wahrlich zu groß,
von ihren Betrachtern zu verlangen, dass sie sich mit dem bloßen
kalten Vergnügen, welches aus der Erwägung ihrer vortrefflichen
Schicklichkeit entspringet, begnügen sollten; an ihrer Kunst war
ihnen nichts lieber, dünkte ihnen nichts edler als das wieder und
wieder postulierte Endziel der Kunst. ...
Nun gibt es Leidenschaften und Grade von Leidenschaften, die sich in dem
Gesichte durch die hässlichsten und gewöhnlichsten Verzerrungen
äußern und den ganzen Körper in so gewaltsame Stellungen
setzen, dass all die schönen Linien, die ihn in einem ruhigen und
ausgewogenem Stande umschreiben, verloren gehen. Dieser enthalten sich
also die großen Künstler nach wie vor entweder ganz oder setzen
sie auf geringere Grade herunter, in welchen sie eines Maßes von
Schönheit noch fähig sind.
Und dieses nun auf den Patzke
angewendet, so ist die Ursache klar, die ich suche: Der Meister arbeitete
auf die höchste Schönheit, unter den angenommenen Umständen
des geistigen und körperlichen Zustandes. Dieser, in aller seiner
Entstellung, war mit jener nicht zu verbinden.. Er musste ihn also herabsetzen,
er musste Gähnen in tumbes Lächeln mindern, nicht weil das Gähnen
gleich ein einfaches Gemüt verrät, sondern weil es das Gesicht
auf unedle Weise entstellt. Denn man reiße dem Patzke
in Gedanken nur den Mund auf und urteile. Man lasse ihn Gähnen und
sehe. ...
IIX
Aber,
wie schon gedacht, die Kunst hat in den neuern Zeiten ungleich weitere
Grenzen erhalten. Ihr Schaffen, sagen alle seit Schlegel, erstrecke sich
auf Welt im allerweitesten Sinne - sie sei Welt; Ausdruck und Aussage
- und manchmal bloße Existenz - sei ihr erstes Gesetz.
So kann der Künstler von der immer veränderlichen Welt letzten
Endes nie mehr als einen einzigen Augenblick und der Bildhauer insbesondere
diesen einzigen Augenblick auch nur einen einzigen Gesichtspunkte, bannen;
sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet
zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden, so
ist es gewiss, dass jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt
dieses einzigen Augenblicks nicht fruchtbar genug gewählt werden
kann. Dasjenige aber allein ist nur fruchtbar, was der Einbildungskraft
freies Spiel lässt - ästhetisch im kantischen Sinne ist. Je
mehr wir sehen, desto mehr müssen wir zu sehen glauben. Je mehr wir
zu sehen glauben, desto mehr müssen wir hinzudenken können.
...
In dem ganzen Gefolge eines Affektes ist aber kein Augenblick, der diesen
Vorteil weniger hat, als die höchste Staffel desselben. Über
ihr ist weiter nichts, und dem Auge das Äußerste zeigen - wie
es in der laufenden Bildkunst oft geschehet - heißt der Phantasie
die Flügel binden. Wenn Patzke
also leer lächelt, so kann ihn die Einbildungskraft gähnen hören,
wenn er aber entsetzlichst gähnte, so kann sie von dieser Vorstellung
weder eine Stufe höher noch eine Stufe tiefer steigen, ohne ihn in
einen leidlicheren und folglich uninteressanteren Zustande zu erblicken.
Sie hört ihn erst schielend einatmen, oder sie sieht ihn schon schmatzen.
...
XIV
Ich
übersehe die angeführten Ursachen, warum der Meister des Patzke
in dem Ausdruck der Langeweile hat Maß halten müssen, und finde,
dass sie allesamt von der eigenen Beschaffenheit der Kunst und von derselben
notwendigen Schranken und Bedürfnisse hergenommen sind. Schwerlich
dürfte sich also irgendeine derselben auf die Schriftstellerei anwenden
lassen. ...
Nichts nötiget hiernächst den Dichter - auch wenn er es könnte
und gar mancher (mit jedoch mäßigen Erfolg) es versuchte -
nichts nötiget den Dichter, sein Werk in einen einzigen Augenblick
zu konzentrieren. Er nimmt jede seiner Handlungen, wenn er will, bei ihrem
Ursprunge auf und führet sie durch alle möglichen Änderungen
bis zu ihrer Endschaft und mehrerer dieser Art. Jede dieser Änderungen,
die dem Bildhauer ein ganz neues Stück kosten würde, kostet
ihn einen einzigen Zug, und würde dieser Zug für sich betrachtet
die Einbildung des hohen Lesers beleidigen, so war er entweder durch das
vorhergehende so vorbereitet oder wird durch das folgende so gemildert
und vergütet, dass er seinen einzigen Eindruck verliert und in der
Verbindung die trefflichste Wirkung von der Welt tut. ... Wäre es
also auch wirklich einem Manne unanständig, in der Überwältigung
des Augenblickes zu gähnen, was kann diese kleine überhingehende
Unanständigkeit demjenigen bei uns für Nachteil bringen, dessen
andere Tugenden uns schon für ihn eingenommen haben? ... Wer muss
nicht vielmehr bekennen: Wenn der Meister wohl tat, dass er den Patzke
nicht gähnen ließ, so tut der Schriftsteller ebenso wohl, wenn
er ihn aufs erschrecklichste gähnen lässt!
XXI
Das
Gestalten einer einzigen Skulptur ist unendlich schwerer als das Gestalten
in Worten, und wenn wir Erfindung und Gestaltung gegeneinander abwägen,
so sind wir unstreitig jederzeit geneigt, dem Meister der Bildhauerkunst
an der einen so viel wiederum zu erlassen, als wir an der anderen zu viel
erhalten zu haben meinen. ...
In der Tat hat der Dichter einen großen Schritt voraus, welcher
eine bekannte Geschichte, bekannte Charaktere behandelt. ... Es ist dies
der Vorteil, den die Klassiker nutzten und den mit viel Esprit Schlegel
forderte und viele neben und nach ihn - je unbewusster desto erfolgreicher
- neu einlösten. ... Diesen Vorteil der Mythen hat auch der Bildhauer,
wenn uns sein Vorwurf nicht fremd ist, wenn wir mit dem ersten Blicke
die Absicht und Meinung seiner ganzen Komposition erkennen, wenn wir auf
eins seine Personen nicht bloß sehen, sondern auch hören, schmecken
und fühlen. ...
Von dem ersten Blicke hanget die größte Wirkung ab, und wenn
uns dieser zu mühsamen Nachsinnen und Raten nötiget, so erkaltet
unsere Begierde, geistig angesprochen zu werden; um uns an den unverständlichen
Künstler zu rächen, verhärten wir uns gegen den Ausdruck.
Wir finden sodann gar nichts, was uns reizen könnte, vor seinem Werke
zu verweilen; was wir sehen gefällt uns nicht, was wir dabei denken
können, wissen wir nicht. ... Es sind derartige Mechanismen, die
die bildende Kunst in den neuesten Zeiten vom pulsierenden Leben in die
Asservatenkammern den Kunstkritikern höriger Exzentriker trieb. ...
Es wurde mithin versucht, jene Unwissenheit mit mancher rhetorischen Gewandtheit
dem übervollen Geiste gar als Tor in eine kunstvolle und künstliche
Welt zu offenbaren. Man lese die Kritiker dieser Schule, vergleiche deren
wohlfeilen Ergüsse und urteile selbst: Jenes große Postulat,
der Weg führe nach innen, erschöpft sich bei diesen in dem zartesten
Klopfen am Tore des menschlichen Geistes; ihre Urteile sind wahrhaft beliebig
...
(Der
Autor distanziert sich von großen Teilen des Inhalts dieses Textes.)
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